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Mittwoch, 03.11.2010

Neues vom Kampf der Kulturen: Die Sakralisierung der Säkularisierung - Dr. Raschid Bockemühl

Säkularisierung, die Trennung von Kirche und Staat, ist eines der Markenzeichen moderner Demokratien. Die Muslime können damit gut leben. Ärgerlich wird es aber, wenn die Säkularisierung neuerdings als Waffe zur Verherrlichung Europas und zur Abwehr des Islam eingesetzt wird. Man sollte sich zuerst einmal über Entstehung und aktuelle Bedeutung der Säkularisierung klar werden.

1. Die säkulare Demokratie – ein europäischer Gründungsmythos

In der vormodernen mittelalterlichen Gesellschaft Europas bildeten Religion und Politik eine Einheit. Die Auseinandersetzung mit der protestantischen Reformation (und andere Entwicklungen) lösten dann in der frühen Neuzeit schwere Religionskriege aus – vor allem den Dreißigjährigen Krieg, der Europa in Schutt und Asche legte. Die Lehre aus dieser Katastrophenerfahrung sollte die Säkularisierung des Staates sein. Religion und Politik sollten künftig getrennt bleiben. Eine liberale, säkulare Gesellschaft sollte zum Fundament der demokratischen Entwicklung werden. So will es die historische Legendenbildung – bis heute.

Aber nach dem Westfälischen Frieden, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, entstanden in Europa keine Demokratien, sondern absolutistische Staaten. Sie waren zwar grundsätzlich säkular, weil der Alleinherrscher keine andere Macht neben sich duldete, sondern im Gegenteil die Macht der Stände, vor allem des Klerus und des Adels, zu brechen suchte. König Ludwig XIV. von Frankreich gab die Parole aus: „L’Etat c’est moi – Ich bin der Staat“. Aber zur Demokratie hat der säkulare Absolutismus nicht geführt. Die Säkularisierung war nicht zum Fundament von Freiheit und Demokratie geworden. Das wird heute in Zeiten kritikloser Verherrlichung der Säkularität gern vergessen. Es gab (und gibt) keinen emanzipatorischen Automatismus, der von der Säkularisierung direkt zur Demokratie führen würde. Freiheit und Demokratie wurden erst nach der Überwindung des Absolutismus durch Aufklärung und französische Revolution möglich. Auch gab es später Staaten, die säkular waren, aber keine Demokratien (z.B. die frühere Sowjetunion). Der säkulare Staat als Fundament der Demokratie ist ein Gründungsmythos, den sich die Europäer selbst geschaffen haben. Und von Mythen nimmt man bekanntlich nur ungern Abschied.

2. Heute: Säkularisierung demokratisch legitimiert

Erst im modernen Europa ist die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft demokratisch verankert und legitimiert. Sie hat sich zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Demokratien entwickelt – aber erst jetzt, nicht schon bei ihrer „Erfindung“ vor dreihundert Jahren. Die Kirche hat ihre politische und weithin auch ihre gesellschaftliche Macht – verglichen mit ihrer früheren Bedeutung – eingebüßt, Religion und Glaube wurden „privatisiert“. Aber die Religionsgemeinschaften haben neue Vorteile erzielt: Sie sind in der Verfassung abgesichert, ihre Anhänger genießen Glaubens- und Kultfreiheit. Politik und Religion sind nicht miteinander verfeindet, aber grundsätzlich voneinander geschieden – zumindest in der säkularen Bundesrepublik Deutschland, die in der Praxis den Weg einer Kooperation von Staat und Kirche eingeschlagen hat – anders als das laizistische Frankreich mit seiner kategorischen Abschottung beider Sphären.

3. Die Sakralisierung der Säkularisierung

Mit seiner Rede vom „Kampf der Kulturen“ hat Samuel Huntington in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die seit den frühen Religionskriegen gepredigten, nach der Aufklärung aber schwächer gewordenen Ängste vor der Religion wieder belebt. Nach neueren Untersuchungen halten denn auch mehr als zwei Drittel der Westeuropäer Religion für „intolerant“; eine etwas geringere Mehrheit glaubt, „Religion erzeuge Konflikte“. Internationale Kriege und Krisen werden kurzerhand auf religiöse Ursachen zurückgeführt. Das erscheint psychologisch entlastender und intellektuell einfacher als die gewissenhafte Analyse ihrer wirklichen, nämlich meist politischen, ökonomischen oder sozialen Ursachen.

Seit Jahren beobachten wir einen Trend zur Dogmatisierung, ja Sakralisierung der Säkularisierung. Eine quasi-religiöse Verehrung alles Säkularen verbindet sich mit missionarischer Militanz gegenüber den Religionen. Warnungen vor der „Rückkehr der Religion“ – und besonders vor dem Übergreifen des Islam auf Europa – dienen dem Ziel, sich der geistig-politischen Überlegenheit des säkularen Europa zu vergewissern. Zur Glorifizierung seiner Vergangenheit und zur Rechtfertigung seiner Warnungen vor der Religion scheint den Europäern das Kontrastbild Islam gerade recht zu kommen.

4. Die islamische Geschichte ist anders verlaufen als die europäische

Formulierungen wie „Der Islam kennt keine Trennung von Kirche und Staat“ oder umgekehrt: „Im Islam bilden Religion und Politik eine Einheit“ gehören zum Kernbestand des heutigen Islam-Diskurses in Europa. Beide Aussagen sind falsch. Weder der Koran noch die islamische Geschichte kennen eine Einheit beider Sphären. Besonders der sunnitische Islam hat immer zwischen religiöser Gemeinschaft (ummah) und politischer Herrschaft unterschieden. Einzige Ausnahme: Medina unter dem Propheten Muhammad (622-632). Eine Kirche kennt der Islam nicht; deshalb stand dem Herrscher dieses Instrument religiöser Einflussnahme auf die Untertanen nur begrenzt zur Verfügung.

Zwar versteht sich der Islam als umfassendes System, das nicht nur die Politik, sondern auch das Leben der Menschen und ihr Zusammenleben in der Gesellschaft regelt (Scharia). Aber zu einer politisch-institutionellen Einheit aller Bereiche kam es nie. Der neue Ruf nach din wa daula! (Religion und Staat!) wurde erst seit dem 19. Jahrhundert zur Parole islamischer Reformbewegungen. Angesichts der politischen Ohnmacht gegenüber dem Kolonialismus und des intellektuellen Nachhinkens gegenüber dem wissenschaftlichen Fortschritt der Europäer drückte er die Sehnsucht nach der Vereinigung der bisher getrennten Bereiche aus, weil man überzeugt war, sich nur so aus der politischen und kulturellen Misere befreien zu können.

5. Säkularer Staat – Muslime sagen: Ja!

Im 20. Jahrhundert hat die islamische Welt unterschiedliche Lösungsansätze zum Verhältnis von Religion und Politik entwickelt:

In einer besonderen Situation befinden sich die muslimischen Minderheiten in einem westlich-säkularen Staat wie der Bundesrepublik Deutschland. Sie hatten auf die deutsche Politik und Rechtsordnung keinen Einfluss, sondern müssen sie akzeptieren – und sei es mit innerem Vorbehalt, falls sie ihr distanziert gegenüber stehen. Der Staat begnügt sich mit der Respektierung und Befolgung der Gesetze. Er macht den Status der Muslime als gleichberechtigte Bürger nicht von einem Bekenntnis zu seiner Wertordnung abhängig. „Gesinnungstests“ für Muslime sind nach dem Grundgesetz nicht vorgesehen. Den säkularen Staat zu bejahen, stellt die meisten Muslime deshalb nicht vor große Probleme, zumal dieser Staat auch ihnen Religionsfreiheit garantiert.

6. Säkulare Gesellschaft – Muslime sagen: Ja, aber .... !

Schwieriger gestaltet sich die Verwirklichung der individuellen islamischen Lebensführung in einer säkularen Gesellschaft, denn die Unterschiede zwischen islamischen und europäischen Einstellungen und Verhaltensweisen sind hier viel augenfälliger. Und die Vereinbarkeit islamischer Normen und Traditionen mit der hiesigen Gesellschaft und öffentlichen Ordnung ist oft nicht frei von Konflikten.

Das islamische Recht verpflichtet die Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die Rechtsordnung des Gastlandes zu halten – vorausgesetzt, sie können dort ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen. Nach der „Islamischen Charta“ des Zentralrats der Muslime in Deutschland von 2002 ist ihnen dies in Deutschland möglich.

Dennoch kommt es im Alltag zu Konflikten zwischen den Rechtsordnungen, die aber häufig bloße Unterschiede zwischen den Traditionen sind. – Hier einige ganz unterschiedliche Beispiele:

Wenn es um Glauben und Rituale geht, dürfen die Muslime ihre Rechtsansprüche, wenn nötig, durchsetzen; Staat und Gesellschaft haben dem grundsätzlich statt-zugeben. Bei sozialen und ethisch-moralischen Normen für die individuelle islamische Lebensführung, die nicht unbedingt einen Rechtsanspruch begründen, sollten Staat und Gesellschaft den Muslimen im Interesse des inneren Friedens so weit entgegenkommen, wie es im Rahmen der deutschen Gesetze möglich ist.

Arbeitspapier für ein christlich-islamisches Seminar am 5./6. November 2010 in Dresden