Newsnational Montag, 07.07.2003 |  Drucken

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Europas (neue) Verfassung

Allen Einwänden zum Trotz hat der Konvent bedauerlicherweise auf einen Gottes-Bezug verzichtet

Ein sichtlich erleichterter Valerie Giscard D´Estaing überreichte beim EU-Gipfel in Thessaloniki dem EU- Ratspräsidenten Kostas Simitis und den anwesenden Staats- und Regierungspräsidenten den mit Spannung erwarteten Verfassungsentwurf des EU-Konventes. Und so hat nun die kritische Auseinandersetzung mit dem Verfassungstext begonnen. Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft, Medien und Religionsgemeinschaften haben schon angefangen sich zu Wort zu melden und melden bereits Änderungs- und Überarbeitungswünsche an.

Selbstgestecktes Ziel des EU-Konventes war es, das Selbstverständnis der Gemeinschaft zu manifestieren und effektive Strukturen für eine auf 25 Mitglieder erweiterte Gemeinschaft zu schaffen. Mit der Präambel, der Charta der Grundrechte, dem Konzept der "Qualifizierten Mehrheit", der Festlegung auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sowie struktureller Reformen auf den Ebenen Europäischer Rat, Europäische Kommission und Europaparlament, stellt der EU-Konvent die Weichen zur Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft und untermauert seinen Willen "in Vielfalt geeint" historische Differenzen zu überwinden und dauerhaft Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand zu gewährleisten.

Der vorgelegte Text beginnt in seiner Präambel mit einem Zitat von Thukydides. Dort heisst es: "Die Verfassung die wir haben… heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist. Interessant, das gerade in der Präambel, also dem Teil von Verfassungstexten, wo Motivation und Selbstverständnis der verfassungsgebenden Versammlung niedergelegt sind, dieses Zitat verwendet wird. Es ist nicht besonders glücklich gewählt, da es wohl nicht auf die zukünftige Behandlung von Minderheiten in der Europäischen Gemeinschaft anspielt, sondern vielmehr verdeutlichen soll, dass angesichts des Beitritts von 10 weiteren europäischen Staaten, das bisher verfolgte Prinzip der Einstimmigkeit bei Entscheidungen der EU, zugunsten einer Mehrheitsregelung ("Qualifizierte Mehrheit) aufgegeben wird.

Allen Einwänden im Vorfeld der Veröffentlichung des Entwurfes zum Trotz hat der Konvent bedauerlicherweise auf einen Gottes-Bezug verzichtet. Des weiteren bleibt trotz der wiederholten Interventionen des Vatikans die Rolle des Christentums in Bezug auf die Werte, die die Gemeinschaft charakterisieren, unerwähnt. Scheinbar bewusst wurde mit dem Bezug auf alle kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen als Quelle der Werte Europas, ein Bogen zwischen allen Ethnien, Konfessionen und Religionen auf europäischen Boden geschlagen.

Insbesondere Muslime sehen somit auch ihren Beitrag für die Entwicklung Europas gewürdigt. Deshalb sollte der EU-Konvent von diesem mutigen Konzept nicht abweichen und insbesondere diese Formulierungen unverändert beibehalten. So kann zum einen die Integration der Muslime beschleunigt werden und zum anderen, mit Blick auf den Beitrittskandidaten Türkei, das Vorurteil, wonach die EU ein "christlicher Club" sei, ein für alle mal ausgeräumt werden.

Angesichts der Tatsache, dass in punkto Islam nach wie vor von einer "fremden" Religion gesprochen wird, so jüngst Winfried Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe bei der mündlichen Verhandlung zum Tragen eines Kopftuches im Schulunterricht, sollte das Bekenntnis zum Islam und zu den Muslimen als untrennbarer Teil europäischer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seitens des Konventes konkreter und noch deutlicher bekräftigt werden. Auch die Muslime sind aufgefordert, sich in den Diskussionsprozess um den Verfassungsentwurf einzubringen und Stellung zum Entwurf zu beziehen. So haben die "Leiter islamischer Zentren und Imame in Europa" diese Notwendigkeit erkannt und zum Abschluss ihrer Konferenz in Graz die Gründung einer Kommission zur Vorlage muslimischer Anliegen beim EU-Konvent empfohlen.

Laut Zeitplan wollen sich Gemeinschaft und Beitrittskandidaten am Ende der italienischen Ratspräsidentschaft auf den endgültigen Verfassungstext einigen. Es wird also auch von der Moderation und dem Verhandlungsgeschick Silvio Berlusconis, nach eigenem Bekunden von der Überlegenheit der christlichen Kultur überzeugt, abhängig sein, dass der Entwurf nicht völlig entstellt wird und sich alle Unionsbürger in ihm wieder erkennen. Ob ausgerechnet der italienische Ministerpräsident dieser Aufgabe gerecht werden kann darf angesichts seiner Auffassung von Rechtstaatlichkeit, Pressefreiheit, seinen wiederholten Ausfällen gegen Minderheiten und Europaabgeordnete und seiner Kooperation mit Neo-Faschisten zumindest in Zweifel gezogen werden. Von Oguz Üçüncü






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